WELT Online, 11 April 2019. Axel Springer SE
Die Geschäfte bei Otto Bock, Holding des Weltmarktführers für künstliche Gliedmaßen, laufen nicht so gut, wie man es von einem Börsenkandidaten erwartet. Lebt Haupteigner Hans Georg Näder über seine Verhältnisse?
Es war einer jener Momente, die Außergewöhnliches erwarten lassen: Der Bürgermeister, mit den Hoheitszeichen städtischer Obrigkeit dekoriert, bekomplimentierte den “wunderschönen Tag” und den “bewegenden ökumenischen Gottesdienst mit Tiefgang”; Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) lobsang das “herausragende Beispiel von German Mittelstand” und den “großen geschäftlichen Erfolg” des Unternehmers, dessentwegen man sich versammelt habe, und Bundeskanzlerin Angela Merkel, die nach 2007 schon zum zweiten Mal aus Berlin nach Duderstadt herbeigeeilt war, erhob den Anlass ihrer Aufwartung zur nationalen Frage: “Danke für das, was Sie für Deutschland tun!” Es fehlten nur noch Salut und Tusch und Kanonendonner.
Auch der Vielgepriesene konnte nicht umhin, ins Große zu gehen: Er erinnerte an Krieg und Katastrophen und daran, dass die Mutter im Orlog den Beschuss mit Granaten überlebt habe, die über Straßen und Dächer “pfiffen”. Aber “Mut, Zuversicht und Gottvertrauen”, ja “Verlässlichkeit, christliche und humanistische Werte”, all das Brave und Rechte sinngemäß, habe seine Familie immer hoch- und wertgehalten. Er selbst werde jetzt sogar “erstmals eine Milliarde Umsatz machen”. Eine Milliarde, die magische Zahl. Der 18. Februar dieses Jahres war, bei Gott, nicht der Tag, an dem Hans Georg Näder (57) und die 350 geladenen Ehren- und Festgäste Beanstandung oder Tadel zu hören bekamen oder zu hören erwarteten. Denn man zelebrierte das Jubiläum zum 100-jährigen Bestehen seiner von Duderstadt bei Göttingen weltweit ausstrahlenden Prothesen-, Orthopädietechnik-, IT- und Jachtbaufirma Otto Bock Holding GmbH & Co. KG, die er in dritter Generation zu lenken das Vergnügen sowohl wie die Verantwortung hat.
Beckmesserei wäre den patriotischen Hoch- und Glücksgefühlen, von denen die Anwesenden im Rathaus der niedersächsischen Kleinstmetropole an diesem Tag ganz hingerissen waren, natürlich zuwidergelaufen und völlig deplatziert gewesen. Aber Anlass dafür, den hätte es schon gegeben, mehr Anlass, als es dem barocken Genussmenschen und Gründerenkel “HGN” lieb und recht sein kann. Doch ungute Nachrichten passen dem Mann, von dem es kaum ein Foto ohne O.-W.-Fischer-mäßigen (Seiden-)Schal gibt, überhaupt nicht ins Kalkül. Denn sein Familienunternehmen mit knapp 8.000 Mitarbeitern in mehr als 50 Ländern will das Kerngeschäft mit den Kunstgliedern, Rollstühlen, der Orthopädietechnik und den medizinischen Dienstleistungen an die Börse bringen. Der Fachbereich führt seit einiger Zeit den Namen Ottobock SE & Co. KGaA und umfasst mit 927 Millionen Euro und demnächst vielleicht einer Milliarde das Gros der Bruttoeinnahmen. Ein genauer Termin für den Tanz aufs Parkett ist noch nicht bestimmt: Näders neuer Firmenleiter Philipp Schulte-Noelle (42), Sohn des früheren Allianz-Premiers Henning Schulte-Noelle (der mit dem Schmiss) und Nachfolger des nur zehn Monate amtierenden Oliver Scheel (des ersten Familienfremden an der Firmenspitze), deutete vor wenigen Wochen an, dass dies “nicht vor 2020” geschehen werde, also nicht mehr in diesem Jahr, aber, wer weiß, am Ende schon im nächsten.
Für HGN bedeutet dies allerdings, dass er noch einiges zu erledigen hat: Denn damit Investoren einen regelrechten Jieper auf Ottobock-Papiere entwickeln, wird er sein Unternehmen aufklaren, in Ordnung sowohl wie in Schuss bringen müssen. Zweifel sind angebracht an dem “großen wirtschaftlichen Erfolg”, für den der Niedersachse sich von seinem Landesvater loben ließ. Diesen Schluss jedenfalls legen die jüngsten Pflichtveröffentlichungen der Firma im “Bundesanzeiger” nahe. Die von Hans Georg Näder im November 2018 verabschiedeten Zahlen für 2017 werfen alles andere als ein schmeichelhaftes Licht auf den Börsenkandidaten. Gewiss, das Konvolut erweckt bei oberflächlicher Lektüre den Eindruck, als sei “Otto Bock” ein sinnverwandter Ausdruck für Zuverlässigkeit, Wohlstand und Blüte.
Der Gewinn vor Abzug von Steuern, Zinsen und Abschreibungen sei 2017 gegenüber dem Vorjahr von 162,1 auf 435,9 Millionen Euro gestiegen, heißt es, und das endgültige Konzernjahresergebnis in ähnlicher Größenordnung gewachsen, nämlich um 263 Millionen Euro. Doch wer nicht den Zuwachs betrachtet, sondern die absoluten Zahlen und diese aufgliedert, wird eines Schlechteren belehrt. So verdiente der Familienkonzern 2017 im Wesentlichen nur deswegen so viel mehr als 2016, weil er wesentliche Teile der Plastikproduktion sowie ein Fünftel der zum Börsengang bestimmten Kernsparte, der ein mutmaßlicher Firmenwert von 3,15 Milliarden Euro zugrunde gelegt worden sei, an die schwedische Beteiligungsfirma EQT verkauft hatte. Beide Verkäufe trugen entscheidend dazu bei, dass unterm Strich einmalig schier überdimensionale 339 Millionen Euro in die Konzernkasse gedonnert waren wie Kohle über eine Schütte. Ohne diesen “Ertrag aus Sondereinflussfaktoren”, wie es in der Veröffentlichung im “Bundesanzeiger” brüchig- spröde heißt, verbuchte Näders Familienkonzern allerdings vor Abzug von Zinsen, Steuern und Abschreibungen nur noch ein Plus von 91 Millionen Euro.
Doch selbst dieser Gewinn ist kein Ausweis unternehmerischer Artistik, sondern eher ein Armutszeugnis: Zum einen liegt er um fast 40 Prozent unter dem Vorjahresergebnis, und zum anderen handelt es sich dabei nur um eine Art Rohgewinn, von dem noch 46 Millionen Euro für Zinsen sowie 98 Millionen Euro für die Abnutzung des Maschinenparks und sonstiger Abschreibungen abgehen. Abzüglich dieser Kosten schrieb das zum Börsengang auserkorene Kerngeschäft einschließlich weniger Randaktivitäten 2017 einen Verlust von sage und stöhne 54 Millionen Euro. Ein sogar noch unerquicklicheres Bild zeichnet die Gewinn- und Verlustrechnung, in der HGN beziffert, was seinem Familienkonzern nach Abzug weiterer Kosten sowie Steuern 2017 als Konzernjahresüberschuss blieb: Auf dem Papier waren dies gut 268 Millionen Euro, eigentlich ein ganz schönes Sümmchen. Doch ohne die “sonstigen betrieblichen Erträge”, die im Wesentlichen die Unternehmensverkäufe umfassten und sich laut Geschäftsbericht auf knapp 436 Millionen Euro summierten, wäre Herr Näder 2017 auf einem Verlust von fast 168 Millionen Euro sitzen geblieben. Der Fehlbetrag war weder Einzelfall noch Ausnahme: Auch das Jahr 2016 endete (nach Abzug sonstiger betrieblicher Erträge von 31 Millionen Euro) mit einem Minus von fast 26 Millionen Euro.
Die BILANZ legte HGN all diese Zahlen sowie die Berechnungen vor und fragte nach den Gründen, weshalb das gewöhnliche Geschäft von Otto Bock sowohl 2016 als auch 2017 defizitär gewesen sei. Ein persönliches Gespräch lehnte Herr Näder ab, ebenso eine Stellungnahme zu den Geschäftszahlen sowie zum vergangenen Geschäftsjahr 2018.
Stattdessen ließ er erklären: Der “Einstieg des schwedischen Private-Equity-Unternehmens EQT Partners nach eingehender Prüfung der wirtschaftlichen Situation und der Strategie” im Jahr 2017 spreche “für sich selbst”. Der “Wert der Transaktion”, den zu beziffern Herr Näder ablehnte, spiegele “das enorme, von EQT erkannte Potenzial der Health-Care-Unternehmensgruppe wider”. Auch vor diesem Hintergrund sehe er “keinen Anlass”, die von der BILANZ gestellten Fragen zu beantworten. Nachgefragt machte er lediglich aufmerksam auf eine fast zwei Jahre alte Erklärung, wonach die zum Börsengang ausersehene Kernsparte Ottobock auf einem “ambitionierten Wachstumspfad” wandele und “hochprofitabel” arbeite. Um einen Hinweis, dass im Kerngeschäft doch nicht alles zum Besten läuft, war der Mann allerdings kaum ein Jahr später nicht herumgekommen: Im Mai 2018 wurde publik, dass die Rollstuhlsparte im thüringischenKönigsee “wegen Verlusten in Millionenhöhe” 50 Stellen streichen musste, davon 40 durch betriebsbedingte Kündigungen.
Die Zahl der Produkte hätten von 120 auf 75 verringert sowie Fertigung und Verwaltung “professionalisiert” werden müssen, gestand der zuständige Geschäftsführer Christian Stenske Anfang dieses Jahres. “Der Turnaround”, also die Überwindung der Krise, sei damit jedoch “noch nicht geschafft”. Jetzt gehe es darum, “ein ehemals defizitäres zu einem gewinnbringenden Geschäft zu machen”. Laut Handelsregister vom 23. Oktober 2018 gehört Näder bis heute der Familienkonzern fast zur Gänze. Seine Töchter Georgia (22) und Julia (28) halten nur geringe Anteile. Die Millionenverluste im gewöhnlichen Geschäft veranlassten den Mehrheitseigner indes nicht, sich persönlich einzuschränken. Schon 2016 hatten laut Geschäftsbericht die “Entnahmen” aus seinem Unternehmen knapp 45 Millionen Euro betragen, das waren 43 Millionen Euro mehr als das kümmerliche Jahresergebnis von rund zwei Millionen. Ein Jahr später nutzte er die Ausbeute der Unternehmens- und Anteilsverkäufe: Dieses Mal waren die Entnahmen etwa doppelt so hoch - fast 89 Millionen Euro. Mit den Zahlen konfrontiert, verweigerte Herr Näder die Aussage. Ebenso wenig wollte er beziffern, welcher Betrag davon an ihn und welcher an seine Mitgesellschafter, die beiden Töchter, geflossen und wofür die Mittel überhaupt verwendet worden seien. Auch die Frage danach, wie hoch die Entnahmen 2018 gewesen seien, blieb unbeantwortet. Hinzugefügt werden muss: Das Schweigen ist das gute Recht jedes Privatunternehmers. Wer den Niedersachsen kennt, den wundert der großzügige Umgang mit dem Firmenvermögen freilich nicht. HGN ist kein Mitglied im Bundesverband der Asketen.
Ein Privatjet, eine schätzungsweise 50 Millionen Euro teure Segeljacht namens “Pink Gin VI”, einschließlich weiterer Fein- und Edelboote, dazu teure Kunst, eine nach ihm benannte Kunsthalle in seinem Geburtsort Duderstadt, sechsstellige Spenden an FDP und CDU, obendrein das ein oder andere Sozialprojekt: Das Leben als Bonvivant und Mäzen verlangt bisweilen womöglich mehr, als der Bau von Prothesen und Rollstühlen abwirft. Dabei läuft es auch strategisch nicht unbedingt reibungslos für den ansonsten extravertierten und nicht unsympathischen Unternehmenserben. So scheiterte er unlängst beim Versuch, seine IT-Firma Sycor aus dem benachbarten Göttingen zu verkaufen. Gelingen sollte dies durch die Zusammenlegung mit dem Münchner Branchenschwergewicht Allgeier und einem anschließenden Börsengang. Der Öffentlichkeit verkaufte Hans Georg Näder den Plan im vergangenen November im “Göttinger Tageblatt” als “supergute Nachricht für Südniedersachsen”. Doch Anfang Februar platzte der Handel. Nun wolle die “Familie langfristig an unserer mehrheitlichen Beteiligung an der Sycor” festhalten und die Mittel zur “nachhaltigen Umsetzung der Wachstumsziele” bereitstellen, erklärte Näder in einem Brief an seine Mitarbeiter.
Zugleich kündigte er dort an, ein “Mitarbeiter- und Managementbeteiligungsprogramm” aufzulegen. Ob es das inzwischen gibt und inwiefern die Betroffenen auf diese Weise Sycor mitfinanzieren sollen - auch die Antwort auf diese Frage blieb Hans Georg Näder schuldig. Unklar scheint zudem, was aus dem im September 2017 für eine nicht bekannte Summe übernommenen US-Prothesenhersteller Freedom Innovations wird. Hans Georg Näder wollte die Konkurrenzfirma in sein Prothesen-, Rollstuhl- und Servicegeschäft eingliedern, das unter dem Firmennamen Ottobock an die Börse soll. Doch drei Monate später, im Dezember 2017, untersagte ein US-Gericht auf Antrag der amerikanischen Wettbewerbs- und Verbraucherschutzbehörde FTC die Verschmelzung, weil dadurch der Wettbewerb auf dem Markt für Mikroprozessor- gesteuerte Knieprothesen leiden und Otto Bock zum beherrschenden Anbieter aufsteigen würde.
Die Folgen für Näders Börsenkandidaten sind schwerwiegend, wie er in seinem jüngsten Geschäftsbericht einräumt. Das US-Gericht habe angeordnet, “dass alle Aktivitäten”, Freedom Innovations zu integrieren, “sofort zu stoppen” seien. Ja, den Niedersachsen wurde gar “jeder direkte Kontakt” zu Freedom Innovations “untersagt”. Dadurch verfüge Ottobock über “keine Kontrolle” über die erworbene Unternehmensgruppe und könne diese auch “nicht konsolidieren”, sprich: in den Büchern als neuen Unternehmensteil führen. Vielmehr sei Ottobock “aufgefordert, einen Lösungsvorschlag zu unterbreiten, der gewährleistet, dass der Wettbewerb in den USA nicht eingeschränkt” werde.
Auf Anfrage wollte sich Näder zu keinem der Punkte äußern. Im Geschäftsbericht dazu ließ er nur verlauten: “Bis zum Aufstellungszeitpunkt des Konzernabschlusses”, das war am 10. November 2018, “gab es noch keine einvernehmliche Einigung mit der FTC und Ottobock”. Gleichwohl verschärfte sich die Lage Ende vergangenen Monats: Am 22. März entschied die amerikanische Wettbewerbs- und Verbraucherschutzbehörde, bei einem Bundesgericht eine einstweilige Verfügung zu erwirken, um die Geschäftsfähigkeit von Freedom Innovations aufrechtzuerhalten, wie es hieß - sprich: Man will verhindern, dass der Duderstädter bei dem erworbenen Unternehmen möglicherweise irreversible Tatsachen schafft.
Die Fehlschläge und Fehlbeträge relativieren das Bild des Erfolgsmenschen, das Näder in den vergangenen Jahren von sich in der Öffentlichkeit verbreitete. Hier HGN, der Supermanager, der “mindestens acht Wochen im Jahr” über die Meere segelt und trotzdem erfolgreich eine Weltfirma leitet - für ihn “alles eine Frage der Organisation”, denn: “Geht nicht gibt’s nicht.” Dort der Unverwüstliche, der in der Bar des Londoner Fünf-Sterne-Hotels “Blakes” angeblich den Rolling-Stones-Gitarristen Ron Wood unter den Tisch trank. Hier der Rekordsüchtige, der 2008 ein Amphibienfahrzeug bauen ließ, nur um schneller als die britische Unternehmerikone Richard Branson den Ärmelkanal zu überqueren. Dort der Begehrenswerte, der für die “Bunte” als Hippie-Verschnitt in geblümter Hose mit Kubanerinnen im Bikini posierte. Die einzige Niederlage, die HGN bisher in der Öffentlichkeit breittrat, scheint die geplatzte Hochzeit mit einem 31 Jahre jüngeren Fräulein zu sein, mit dem er sich im Sommer 2017 auf Sardinien verlobt hatte. Den Liebes- und Hormontaumel machte Näder im Berliner “Tagesspiegel” in einer rosaroten Anzeige bekannt, mit einem Herz in Tätowierungsgestalt.
Zu Pfingsten 2018 sollte auf Ibiza geheiratet werden, Flüge, Fähren und Zimmer für 500 Gäste waren gebucht, die Musik und der Geistliche ebenfalls. Doch dann zerbrach die “Liebe auf den ersten Blick”, wie Herr Näder sagte, und er blies die Eheschließung mit seiner Berliner Bekanntschaft jäh ab. Diese habe, ließ er die Geladenen wissen, sein Vertrauen “fehlinterpretiert”. Trotzdem sagte er die Party nicht ab und feierte Hochzeit, wenngleich ohne Braut: “Näders Hochzeit mit sich selbst”, schrieb “Bild”. Besser kann man’s nicht ausdrücken.
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