Wie gut geht es Ottobock?

2022-12-27
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(c) Hannoversche Allgemeine Zeitung, Niedersachsen Der Norden, Dienstag, 27. Dezember 2022, Von Katharina Kutsche

Das Prothesenunternehmen aus Duderstadt sieht den Weg an den Kapitalmarkt weiter als Option. Doch dafür muss es eine Wachstumsgeschichte erzählen können. Und nun prüft auch noch ein Investor seinen Ausstieg.

Hannover

Wer einmal die Gelegenheit hatte, die Werkstätten des Prothesenherstellers Ottobock zu besichtigen, kann an der Motivation der Belegschaft keinen Zweifel haben. Am Firmensitz in Duderstadt bekommen Menschen nach einer Kriegsverletzung, einem Unfall oder einer schweren Krankheit einen möglichst großen Teil ihrer Mobilität zurück. Als Geschäftszweck ist das ein sehr lohnenswertes Ziel. „We empower people“, heißt passenderweise das Unternehmensmotto – übersetzt etwa: Wir stärken Menschen. Doch wie stark ist das Unternehmen dahinter? Es ist knapp sieben Monate her, da machte Ottobock innerhalb weniger Tage gleich mehrmals Schlagzeilen. Erst gingen drei Topmanager, dann wurde der angestrebte Börsengang abgesagt. Beides kam für Außenstehende überraschend. Seit vergangenem Donnerstag ist nun bekannt, dass der Investor EQT, der 20 Prozent der Anteile an Ottobock hält, seinen Ausstieg prüft.

80 Prozent bei Gründerfamilie

Kurz vor dem Weihnachtsfest also die nächste Kapriole. EQT beweist mit diesem Schritt allerdings Konsequenz. Die schwedische PrivateEquity-Firma war 2017 mit einer Minderheitsbeteiligung bei Ottobock eingestiegen. Die verbleibenden 80 Prozent hält die Gründerfamilie um Hans Georg Näder. Dessen Näder Holding steht als Mutterunternehmen hinter der Ottobock SE & Co. KGaA, beide haben ihren Sitz im Eichsfeld. Gründer-Enkel Näder hatte das Unternehmen schon zuvor an die Börse bringen wollen, stattdessen kam es zur Kooperation mit EQT. Der Plan war seitdem, so hatte es Ottobock kommuniziert, 2022 börsenreif zu sein. Die Vorbereitungen allein haben die Tochtergesellschaft im vergangenen Jahr 11,4 Millionen Euro gekostet. Private-Equity-Firmen aber bleiben oft nur mehrere Jahre, bevor sie ihre Beteiligung wieder abstoßen. Und mit der Absage des Börsenganges im Mai war das gemeinsame Ziel hinfällig.

Mehr als 9000 Beschäftigte

Dass der Schritt an den Kapitalmarkt nicht zustande kam, begründet das Unternehmen damit, dass er „aufgrund der aktuellen geopolitischen Lage und des davon beeinflussten Kapitalmarktumfeldes bis auf Weiteres nicht erstrebenswert“ sei. Tatsächlich hatte 2022 nur der Automobilhersteller Porsche sein Aktiendebüt. Doch Experten sagen, ein gutes Unternehmen könne man auch in schwierigen Zeiten an die Börse bringen. Man sollte dafür aber eine Wachstumsgeschichte erzählen können. Genau da hakt es möglicherweise. Ottobock bezeichnet sich als Marktführer in der Prothetik. Ein „Big Player“ ist das Unternehmen zweifellos: mehr als 9000 Beschäftigte an knapp 60 Standorten weltweit, dazu mehr als 390 Versorgungszentren und ein jahrzehntelanges Engagement bei den Paralympics, bei denen die Duderstädter die Werkstätten für die Athleten betreiben. Und auch wenn es zynisch klingen mag: Kriege und damit auch Versehrte gibt es nicht erst seit Russlands Angriff auf die Ukraine. Hinzu kommt, dass in den wohlstandsgesättigten westlichen Ländern die Menschen immer älter und Krankheiten wie Diabetes häufiger werden. Nach Einschätzung von Experten sind nicht Unfälle, sondern arterielle Verschlusskrankheiten, etwa wegen Diabetes mellitus, in Deutschland der häufigste Grund für eine Beinamputation. Die Zahl der tatsächlichen und potenziellen Anwender von Prothesen ist also sicher nicht gesunken. Wettbewerber Össur etwa, ein rund 4000 Mitarbeiter starkes Orthopädieunternehmen aus Reykjavík ist ebenfalls weltweit in mehr als 30 Ländern aktiv. Zwischen 2017 und 2021 verzeichneten die Isländer ein Umsatzwachstum von 26 Prozent und Gewinne von im Schnitt rund 56 Millionen Dollar pro Jahr. Bei Ottobock dagegen kommt es darauf an, in welchen Jahresabschluss man schaut.

Mehr Umsatz, mehr Verlust

Die Ottobock SE & Co. KGaA hat zwar ihren Umsatz zwischen 2017 und 2021 um 16 Prozent gesteigert, aber im selben Zeitraum 36,4 Millionen Euro Verluste gemacht. Zudem stieg die Verschuldung gegenüber den Kreditinstituten zwischen 2017 und 2021 um 40 Prozent auf 757,5 Millionen Euro. Die Eigenkapitalquote dagegen ist auf nur noch 10 Prozent gesunken. Dabei gilt: Je höher die Quote, desto stabiler das Unternehmen. Anders ausgedrückt: Je niedriger die Quote, desto riskanter wird gewirtschaftet. Im deutschen Mittelstand lag die Quote 2021 laut einer Studie der Förderbank KfW im Schnitt bei 31,4 Prozent. Ottobock verweist auf Anfrage auf die Gesellschaftsstruktur: Der Einzelabschluss der Ottobock SE & Co KGaA sei in diesem Zusammenhang nicht aussagekräftig, entscheidend sei der Abschluss der Ottobock Unternehmensgruppe. Der wird aber im Konzernabschluss der Näder Holding bilanziert, der für 2021 noch nicht veröffentlicht ist. Und die Ottobock SE & Co KGaA ist nun mal das Unternehmen, das an den Kapitalmarkt gegen sollte. 2020 lag auch die Eigenkapitalquote der Näder Holding nur bei 22 Prozent, Tendenz sinkend. Summiert sind in drei Jahren knapp 120 Millionen Euro Verlust entstanden. Und das Umsatzwachstum? Lag in fünf Jahren kumuliert bei unter 3 Prozent. Fakt ist: Der Geschäftsbereich Ottobock generierte zuletzt 94 Prozent des Umsatzes der Näder Holding. Wie stark kann also die Mutter sein, wenn die Tochter schwächelt, und andersherum? Der Einzelabschluss der Ottobock SE & Co. KGaA für das Geschäftsjahr 2021 jedenfalls datiert vom 12. April 2022. Einen Monat später wurde der Börsengang abgesagt

Geschäfte mit Vermittler

Noch ein weiterer Aspekt in der Bilanz für 2021 irritiert. Demnach nutzt die Ottobock SE & Co. KGaA erstmals ein sogenanntes ReverseFactoring-Programm. Das heißt übersetzt: Ottobock kauft Waren ein, der Vermittler legt die Kaufsumme aus, und das Unternehmen zahlt sie ihm später zurück. Zum 31. Dezember 2021 schuldete Ottobock jenem Zahlungsverkehrsdienstleister 52,7 Millionen Euro. Zur Klarstellung: Weder die Art der Bilanzierung noch das Reverse Factoring sind unseriös. Diese Unternehmensfinanzierung werde immer häufiger, schrieb die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht Ende November 2021. So häufig allerdings, dass die Behörde Reverse Factoring zum Prüfungsschwerpunkt bei Konzernabschlüssen von 2021 erklärte. Reverse Factoring sei „ein Baustein in unserem Gesamtfinanzierungskonzept“, erklärt das Unternehmen auf die Frage, warum man sich seinen Einkauf von jemand anderem finanzieren lässt. „Da wir sehr viele Lieferanten, Zulieferer und Kunden haben, nutzen wir dieses Instrument vor allem, um eine bessere Planbarkeit der Finanzmittelsteuerung zu haben.“

Starker Wettbewerber

Insofern bleibt spannend, wie sich das 1919 gegründete Familienunternehmen im kommenden Jahr präsentiert. Im Kampf um Fachkräfte hat Ottobock mit dem BiotechUnternehmen Sartorius in Göttingen einen starken Wettbewerber. Sartorius ist tarifgebunden, Ottobock nicht. Die IG Metall ist daher schon seit Langem mit der Belegschaft des Prothesenherstellers im Gespräch. In diesen Gesprächen „nehmen wir eine gewisse Unsicherheit der Kolleginnen und Kollegen wegen der vielen Brüche in der letzten Zeit wahr“, sagt André Sander, erster Bevollmächtigter der IG Metall Süd-Niedersachsen-Harz. Auch das Interesse an einer Mitgliedschaft in der Gewerkschaft sei gewachsen. Der Börsengang jedenfalls, der sei weiter eine Option, heißt es in Duderstadt. Das operative Geschäft führt seit Mai Oliver Jakobi, zunächst übergangsweise, nach der jüngsten Verwaltungsratssitzung vom 15. Dezember als neu ernannter Vorstandsvorsitzender. Jakobi soll den Prothesenhersteller „in die nächste Phase der Unternehmensentwicklung“ führen, sagte Hans Georg Näder nach der Entscheidung. Gemeinsam mit dem Vorstandsteam werde Jakobi „unsere Wachstumsstrategie erfolgreich fortsetzen.“