Deutscher Prothesenhersteller: Ottobocks Millionengeschäft in Russland – diese Details werfen Fragen auf

2025-04-16
Lesezeit: 8 min

(c) Welt, Louis Westendarp

Apr 16, 2025 06:38 AM7 min. readView original Einer von Ottobocks erfolgreichsten Märkten dürfte zeitgleich der umstrittenste sein: Russland. „Geschäfte mit Rubel haben ordentlich zum Umsatzwachstum des Konzerns beigetragen“, zitiert die „Wirtschaftswoche“ aus dem aktuellsten Geschäftsbericht.

Im Jahr 2023 haben Ottobock-Beteiligungen in Russland ein Ergebnis von zwölf Millionen Euro erzielt. Die Geschäfte in Putins Reich, das seit 2022 die Ukraine überfällt, laufen gut. Und Kritik? Die watscht Unternehmenspatriarch Hans Georg Näder stets ab: „Es sind keine Kanonen, sondern humanitäre Güter.“

Für Ottobock gibt es aber eine rote Linie: Geschäfte mit dem russischen Militär mache man nicht. Gegen solche Behauptungen geht Näders Unternehmen auch juristisch vor.

Auf einen früheren Artikel des „Manager Magazins“ reagierte der Prothesenhersteller mit einer Unterlassung, die auch Business Insider bekam, als er über die Recherche berichtete.

Dort schrieb Ottobocks Medienanwalt: Es sei zu unterlassen, „den Verdacht zu erwecken, die Ottobock-Gruppe unterhalte in Russland Geschäftsbeziehungen zu militärischen Organisationen“. Auch Firmen-Erbin Georgia Näder betont: Ottobock versorge „nur Zivilisten“.

Doch Business Insider hat umfassende Belege gesammelt, die nahelegen, dass Prothesen von Hans Georg Näders Unternehmen sehr wohl in den Händen von russischen Soldaten gelandet sind. Selbst Moskaus Propaganda-Kriegshelden haben offenbar Prothesen mit Ottobock-Komponenten erhalten und sind teils sogar an die Front zurückgekehrt.

Russische Orthopädie-Kliniken, die für Putins Militär arbeiten, scheinen dabei als Mittelsmänner zu fungieren. Einige dieser Kliniken hat Ottobock im Oktober 2024 zu einer Konferenz in einem Luxushotel eingeladen.

Russische Doku zeigt, wie Kriegshelden Ottobock-Prothesen erhalten Der Staatssender „Russia Today“ veröffentlichte im Dezember 2022 eine Kriegsdokumentation mit dem Titel „Marines: Stark im Geist“. Die Protagonisten waren drei russische Soldaten, die in der Ukraine jeweils ein Bein verloren hatten.

Mehrere Aufnahmen der Dokumentation zeigten, dass die Soldaten wohl Prothesen mit Ottobock-Komponenten erhielten. Zwei der Soldaten, die in Russland mittlerweile als Kriegshelden gefeiert werden, dienten später wieder im Militär.

Einer der Protagonisten: Soldat Anton Filimonov. Er war bei der monatelangen Belagerung von Mariupol dabei, bei der laut ukrainischen Angaben über 25.000 Menschen getötet wurden. Filimonov verlor sein rechtes Bein.

In der Dokumentation bekam er augenscheinlich eine Prothese von Ottobock, hielt sich sportlich fit und besuchte mit seiner neuen Prothese einen Schießstand. Er und die anderen beiden Veteranen hätten „ihre Kampfform auf dem Übungsplatz aufrechterhalten“, hieß es im Bericht. Die Soldaten sollten offenbar schnellstmöglich zurück in den Einsatz.

Im Februar 2023 – also nach seiner Prothesen-Behandlung – war Filimonov wieder im Dienst. Der „legendäre Marinesoldat“ kehrte laut russischen Berichten sogar an die Front zurück.

Doch seit seiner Prothese ist Filimonov längst mehr als ein gewöhnlicher Soldat. Er ist Teil von Putins Propaganda-Maschine und trat 2023 beispielsweise beim „Tag des Vaterlandsverteidigers“ im Moskauer Luschniki Stadion auf.

Ein weiterer Kämpfer ist Vladislav Golovin. Der Kommandant war ebenfalls am brutalen russischen Angriff auf Mariupol beteiligt und erhielt für seinen Einsatz die höchste militärische Auszeichnung in Russland, „Held der Russischen Föderation“. Das Bein, das er in Mariupol verlor, wurde in der Dokumentation mit Prothesenteilen von Ottobock ersetzt.

Mittlerweile dient auch Golovin wieder in Moskaus Militär. Der Kriegsheld unterrichtet russische Soldaten an einer Militär-Akademie, so Berichte. Auch Kriegsheld Golovin spielt in Moskaus Propaganda-Apparat eine wichtige Rolle und durfte bei der Parade zum 79. Jubiläum des Sieges im Zweiten Weltkrieg direkt bei Präsident Putin sitzen.

Auch der dritte Marinesoldaqt der Dokumentation erhielt eine Prothese mit Ottobock-Komponenten. Über seinen Werdegang danach ist jedoch nichts bekannt. Doch die drei Soldaten aus der Russia-Today-Dokumentation sind bei Weitem nicht die einzigen Mitglieder des russischen Militärs, die Prothesen von Ottobock tragen.

Ein Video des russischen Kriegs-Bloggers „War Gonzo“ zeigt den Kommandeur des 95. Gewehrregiments mit dem Rufnamen „Sid“. Das Video wurde im Juni 2024 gepostet und soll Sid im Kriegsgebiet zeigen. Der Kommandeur sagt, dass er mit seiner Prothese – bei der es sich erkennbar um ein Ottobock-Modell handelt – wieder im Einsatz sei.

In einem weiteren Bericht vom Mai 2024 sieht man Sid und andere russische Soldaten. „Die Kämpfer halten derzeit die schwierige Richtung Wuhledar“, heißt es im Beitrag. Wuhledar ist eine strategisch wichtige Stadt für die Ukraine, die schlussendlich im Oktober 2024 von russischen Soldaten eingenommen wurde.

Mit seiner Prothese arbeitet Sid jetzt daran, dass die Region Wuhledar möglichst lange russisch besetzt bleibt. Für ukrainische Soldaten, die die „Bevölkerung terrorisieren“ würden, fordert er harte Strafen: „Um ehrlich zu sein, hoffe ich tief im Inneren auf ein neues Nürnberger Tribunal.“ Bei den Nürnberger Prozessen nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Kriegsverbrecher aus Nazi-Deutschland teils zum Tode verurteilt.

Business Insider hat gefragt, wie es Ottobock bewertet, dass Soldaten mit den Prothesen offenbar wieder im Einsatz sind und Putin-Propaganda betreiben. Im Zuge der Anfrage hat Business Insider eine umfassende Dokumentation der Recherche zur Verfügung gestellt. Für Ottobock war das offenbar nicht genug.

„Insgesamt sind Ihre Quellen – es handelt sich in erster Linie um russische Propaganda – zweifelhaft“, antwortet Unternehmenssprecherin Merle Florstedt. Auch die konkreten Fälle von Filimonov, Golovin und Sid könne man nicht einschätzen, „weil wir die Personen nicht kennen.“

Somit könne Ottobock auch nicht beurteilen, ob tatsächlich Soldaten „nach einem langwierigen Heilungs- und Versorgungsprozess wieder an die Front zurückkehren.“

Dabei ist das Leben der Soldaten gut dokumentiert. Zudem hätte Ottobock die Identität der Soldaten anhand der übersendeten Recherche-Dokumentation überprüfen können.

Filimonov, Golovin und Sid sind auf Telegram sehr präsent, erscheinen in russischen Medien und treten auf öffentlichen Veranstaltungen auf.

Trotzdem wolle Ottobock erklären, wie es zu den Videoaufnahmen gekommen ist. Es sei „durchaus möglich und nicht ungewöhnlich“, dass man Ottobock-Prothesen in Orthopädiewerkstätten und Sanitätshäusern finde. Schließlich beliefere Ottobock diese als „Geschäftskunden“.

Es handele sich dabei aber nur „um einzelne Gelenke, Adapter oder Liner“, sagt Unternehmenssprecherin Florstedt. Es sei „möglich“, dass diese Geschäftskunden dann auch russische Veteranen versorgten. Das „entzieht sich aber sowohl unserer konkreten Kenntnis als auch unserer Kontrolle.“

Die Rolle der Orthopädie-Kliniken Ottobock betonte in der Anfrage ebenfalls, dass man keine Verträge mit dem Militär habe. Die braucht es auch nicht, damit Putins Militär die Ottobock-Prothesen im Endeffekt finanziert.

Die von Ottobock angesprochenen „Geschäftskunden“ sind oft Orthopädie-Kliniken, die als eine Art Mittelsmann fungieren. Sie arbeiten mit Ottobock-Komponenten und sind zeitgleich Partner des russischen Militärs. Ottobock müsste davon eigentlich Kenntnis haben, zumindest sind Informationen darüber öffentlich zugänglich.

Ein Beispiel ist die Orthopädie-Praxis aus der Dokumentation „Marines: Stark im Geist“, die Golovin und Filimonov versorgte. Sie heißt Limb Orto. Ibrahim Ibrahimov, der auch unter seinem Spitznamen „Cyborg“ bekannt ist, leitet die Moskauer Praxis. Auf seiner Website wirbt Ibrahimov prominent mit Ottobock-Prothesen – und Ottobock bestätigt auf Anfrage, dass Limb Orto ein Geschäftskunde sei.

Dabei ist seit der Russia-Today-Dokumentation – also seit Dezember 2022 bekannt – dass Ibrahimov auch Militärs versorgt. Dieses Jahr überlegt er sogar, neue Standorte für russische Soldaten des Ukraine-Krieges zu eröffnen.

Dabei hatte Ottobock-Sprecherin Florstedt noch 2023 beteuert, dass man Geschäftsbeziehungen sofort beende, „sollte sich herausstellen, dass Kunden in Russland unsere Produkte tatsächlich für militärische Zwecke nutzen oder verkaufen“.

Ottobock lud Militär-Partner zu Luxus-Konferenz ein Bei anderen Orthopädie-Kliniken sind die Verbindungen zum russischen Militär noch offensichtlicher. „Dynamics-Orto“ beispielsweise. Die Klinik schreibt auf ihrer Webseite: „Das Prothetikzentrum Dynamics ist ein Auftragsfertiger für Krankenhäuser des Verteidigungsministeriums der Russischen Föderation“. Heißt: Dynamics fertigt Prothesen für das russische Militär.

Auch Dynamics vertraut dem Marktführer Ottobock. Im Januar 2025 lädt Dynamics ein Werbe-Video hoch, auf dem ein neues Ottobock-Kniegelenk vom Typ „3R80“ vorgestellt wird. Auf seiner Webseite zeigt Dynamics zudem Testimonials von Soldaten, die in Uniform über ihre Ottobock-Prothesen sprechen. Die Verbindung zum Militär ist offensichtlich.

Vergangenes Jahr lud Ottobock die Chefs von Dynamics zu einer mehrtägigen Konferenz ein. Diese fand offenbar im 5-Sterne-Hotel Novotel Krasnaya Polyana statt, wie Aufnahmen von Teilnehmern zeigen.

Dort sollten sie anderen Prothesen-Technikern von ihren Erfahrungen erzählen, wie ein Telegram-Post der Klinik zeigt. Auf dem Foto sieht man die Auftragsfertiger des russischen Militärs hinter der Ottobock-Flagge.

Ist Dynamics ein Einzelfall? Auch andere Teilnehmer der Konferenz posten öffentlich ihre Unterstützung für die Ukraine-Invasion: Eine Orthopädie-Klinik hat sogar Drohnen für die Front gespendet und gibt an, Ottobock-Partner zu sein.

Ein weiterer Mediziner namens Max Proskurin postet zum Zeitpunkt der Konferenz Fotos vor dem Luxushotel auf Instagram: „Wir sind eingeladen“. Zwei Monate später dann ein Post aus dem Kriegsgebiet, er habe gerade 250 russische Soldaten eine taktisch medizinische Ausbildung erteilt. „In ein paar Tagen werden diese Jungs zu Kampfmissionen aufbrechen“, schreibt Proskurin.

Doch wie kann es sein, dass ein Unternehmen wie Ottobock offenbar Personen wie Proskurin und direkte Partner des russischen Militärs auf seine Veranstaltung einlädt? Ottobock erklärt lediglich, dass man mit Dynamics Orto nicht zusammenarbeite. Statt umfassende Antworten zur Luxus-Konferenz zu liefern, sagt das Unternehmen, die Recherche beruhe auf russischer Propaganda: „Insgesamt sind Ihre Quellen – es handelt sich in erster Linie um russische Propaganda – zweifelhaft. Und die Fragen offenbaren teilweise eine Perspektive, der andere Moralvorstellungen zugrunde liegen als die, die unser Unternehmen seit über 100 Jahren in seinen Werten verankert hat. Alles in allem ist Ihre Anfrage irritierend“, erklärt die Ottobock-Sprecherin Merle Florstedt.

Ottobock will in Russland weitermachen „Wir versorgen allerdings nur Zivilisten und liefern nicht ans Militär“, so hatte Ottobock-Erbin Georgia Näder im September 2024 die Russland-Politik ihres Unternehmens beschrieben. Und laut Ottobock sei diese Aussage weiterhin „wahr und richtig“ und stehe auch „in keinem Widerspruch“ zu der Recherche von Business Insider.

Ottobock habe seine Präsenz in Russland nach Ausbruch des Krieges von sieben auf vier Standorte verringert. „Der Anteil des russischen und des ukrainischen Marktes macht lediglich einen einstelligen Anteil am Gesamtumsatz aus.“

Trotzdem: Geschäfte in der Währung Rubel tragen bei Ottobock zum Umsatzwachstum bei. Orthopädiewerkstätten wie Limb Orto und Dynamics Orto machen ein gutes Geschäft. Sie alle profitieren vom zunehmenden Bedarf an Prothesen durch den Ukraine-Krieg – und sie setzen dabei auf Ottobock-Produkte.

Das Russland-Geschäft aufgeben? Es wäre wohl ein empfindlicher finanzieller Schlag für Näders Prothesenhersteller, der dazu immer noch keinen Grund sieht: „Seit rund 30 Jahren versorgen wir in Russland Menschen mit Mobilitätseinschränkungen und werden dies auch weiterhin tun.“

Dieser Artikel ist zuerst bei “Business Insider” erschienen.

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