Von Philip Kaleta, WirtschaftsWoche, 11 November 2024
Der Prothesenhersteller Ottobock versucht einem Betriebsrat zu kündigen, schickt Briefe per Einschreiben an Vertrauensleute und droht nun sogar der IG-Metall-Chefin rechtliche Schritte an.
An einem frühen Abend im Juli sitzt Christoph Melcher (Name geändert) nach der Arbeit am Küchentisch und bereitet sein Abendbrot vor. Seine Ehefrau ist verreist, sie arbeitet für den niedersächsischen Prothesenhersteller Ottobock. Kurz vor acht klingelt es an der Tür, ein Bote bringt einen Brief per Einschreiben. Melcher ist verdutzt. Auf dem Couvert steht Ottobock, adressiert ist es an seine Ehefrau. Er befürchtet das Schlimmste: eine Kündigung.
Seine Ehefrau ist Vertrauensperson im Betrieb, die Haltung der Führung gegenüber Betriebsrat und Vertrauenskörper sei belastet, berichteten zahlreiche Mitarbeiter übereinstimmend. Nun also der Knall? Er ruft hektisch seine Frau an, sie erlaubt ihm, den Brief zu öffnen. Der Konzern klärt in dem Brief in strengem Juristendeutsch auf, was Melchers Ehefrau als Vertrauensperson machen darf – und was sie nicht darf.
Melcher fasst den Brief als Drohung auf. Weshalb sonst sollte der Konzern per Einschreiben einen solchen Brief verschicken, wo doch seine Ehefrau bereits seit Monaten im Vertrauenskorpus war? Weshalb führt man so ein Gespräch nicht bei der Arbeit? Melcher greift erneut zum Hörer und fordert seine Frau auf, den Vertrauenskörper zu verlassen. Die Ehefrau bleib dennoch Vertrauensperson. Der Brief hinterlässt allerdings eine Wirkung, die Melchers sind eingeschüchtert.
Auf Anfrage, weshalb die Ottobock-Führung derartige Briefe per Einschreiben verschickt, antwortet eine Konzernsprecherin: „Dieses Vorgehen wurde anschließend an ein persönliches Gespräch zwischen unserem CEO und zwei Vertrauensleuten gewählt, um den Zugang zu den Informationen für alle Vertrauensleute zu gewährleisten." Darauf angesprochen, dass sich Mitarbeiter und Vertrauensleute eingeschüchtert fühlen und wie das Klima zwischen Unternehmensführung und Mitarbeitervertretern ist, entgegnet die Sprecherin: „Dieser Vorwurf ist uns unbekannt. Er ist auch unbegründet. Im Gegenteil: Wir haben zahlreiche Beschwerden von Mitarbeitenden über die Werbepraktiken von IGM-Vertrauensleuten erhalten. Jeder Arbeitgeber hat Fürsorgepflichten, die allen Beschäftigten gegenüber gelten. Wenn Mitarbeitende auf die Unternehmensleitung oder Personalabteilung zukommen und über Störungen berichten, ist es Aufgabe des Arbeitgebers, darauf zu reagieren." Die Briefe per Einschreiben sind nur eines von einigen Beispielen, die zeigen, wie die Geschäftsführung von Ottobock mit Mitarbeitervertretern umgeht. Es sind auch nicht nur die Vertrauensleute.
Am Donnerstag stand etwa beim Amtsgericht Göttingen ein besonderer Fall an. Ottobock will die Kündigung eines Betriebsrates durchsetzen. Die Geschäftsführung wirft dem Mitarbeitervertreter vor, einem Betriebsbeauftragten der IG Metall Zugang zum Bereich SuitX gewährt und damit gegen Geheimhaltungspflichten verstoßen zu haben. So steht es in einer Pressemitteilung des Amtsgerichts. SuitX ist ein Bereich im Unternehmen, der sich auf die Entwicklung, Produktion und den Vertrieb von Exoskeletten spezialisiert hat.
Konkret soll der Betriebsrat laut der Pressemitteilung des Amtsgerichts „im Juni 2024 gemeinsam mit dem Betriebsbeauftragten der Gewerkschaft im Bereich SuitX einen Kaffee getrunken und sich dabei über die Exoskelette und eine in diesem Bereich geplante Umstrukturierungsmaßnahme unterhalten haben."
Für die Kündigung eines Betriebsrates bedarf es der Zustimmung der gesamten Mitarbeitervertretung, welche die Geschäftsführung von Ottobock allerdings nicht bekommen hat. Deswegen nun der Prozess vor dem Amtsgericht. Mit so einem Verfahren können Arbeitgeber die nicht erteilte Zustimmung des Betriebsrats durch das Gericht ersetzen lassen. Die IG Metall weist die Vorwürfe der Geschäftsführung auf Anfrage als haltlos zurück. An dem Betriebsbeauftragten der IG Metall – und der Gewerkschaft selbst – scheint die Führung von Ottobock um Eigner Hans Georg Näder einen Narren gefressen zu haben. Seine Präsenz auf dem und um das Gelände des Konzerns soll die Prothesenhersteller offenbar dermaßen gestört haben, dass sie die Rechtsabteilung veranlasst haben, einen Brief an die Erste Vorsitzende der IG Metall, Christiane Benner, persönlich zu schreiben. Darin zweifeln die Ottobock-Anwälte die Legitimation des Betriebsbeauftragten an und fordern Benner auf, ihnen diese zu erläutern. Die Anwälte erklären, dass der Beauftragte sich wiederholt auf dem Betriebsgelände des Unternehmens in Duderstadt und Ottobock-Räumlichkeiten in Göttingen aufgehalten habe. Ottobock argumentiert in dem Schreiben, dass ein Besuch einer vorherigen Anmeldung bedurft hätte – und man nun prüfe, ob „dieses Verhalten den Strafbestand des Hausfriedensbruchs darstellt".
Dann fordern die Anwälte von Ottobock die IG-Metall-Chefin Benner auf, „zukünftig dafür zu sorgen, dass Herr Köppe keine weiteren Versuche unternimmt, Betriebsgelände der Ottobock-Unternehmensgruppe zu betreten". Man werde dem Beauftragten den Zugang zum Gelände bis zur Klärung aller offenen Fragen verweigern.
Ottobock-Mitarbeiter sagen hinter vorgehaltener Hand, dass es für die Führungsmannschaft um Hans Georg Näder als Ansprechpartnerin nicht unter der Ersten Vorsitzenden der größten Gewerkschaft in Deutschland ging. In der IG Metall sieht man den Brief als Ritterschlag für den Beauftragten in der Region, über den sich die Führung dermaßen aufregt.
Auf Anfrage, weshalb die Ottobock-Führung gleich die Gewerkschaftschefin angeschrieben habe, antwortet eine Konzernsprecherin: „Der Umfang der Beauftragung des Herrn Köppe war unklar und wurde durch die Anwälte des Vorstands der IG Metall geklärt."
Hinweis: Dieser Artikel erschien erstmals am 8. November 2024 bei der WirtschaftsWoche. Wir zeigen ihn aufgrund des hohen Leserinteresses erneut.