Von Dietmar Palan, manager magazin, 06.10.2025. Original article here.
Ottobock-Börsengang: Die Rechenakrobatik des Prothesenkönigs
Im dritten Anlauf will Patriarch Hans Georg Näder den weltgrößten Prothesenhersteller Ottobock an die Börse bringen. Für die Anleger könnte es ein nervenaufreibendes Spiel werden: Die Konditionen sind mehr als ambitioniert, wie eine Analyse zeigt.
Ein paar Tausend Kilometer wird Hans Georg Näder (64) im Sommer schon abgerissen haben. Quer durch die Finanzmarktmetropolen dieser Welt zeigte sich der Mehrheitseigner des Duderstädter Prothesenfabrikanten Ottobock auf Roadshow. Rund 20 Prozent seiner Familienfirma sollen an die Börse, etwas mehr als 800 Millionen Euro soll der Kapitalmarktgang in die Kasse spülen. 700 Millionen für ihn selbst und seine beiden Töchter, rund 100 Millionen über eine Kapitalerhöhung für das Unternehmen.
Es ist der dritte Anlauf aufs Parkett. 2017 hatte der Patriarch lieber 20 Prozent an den skandinavischen Private-EquityGiganten EQT abgegeben, statt den IPO zu wagen. Knapp fünf Jahre später, im Frühjahr 2022, sah er sich wegen der Börsenturbulenzen, die auf Russlands Ukraine-Feldzug folgten, zum Rückzug gezwungen. Nun sollen die Aktien am 9. Oktober erstmals an der Frankfurter Wertpapierbörse gehandelt werden.
Doch mit dem Kapitalmarktdebüt ist die Zitterpartie für Näder und sein Unternehmen noch nicht zu Ende. Und für seine neuen Mitaktionäre geht sie vermutlich erst los: Sie kaufen sich in ein Unternehmen ein, dessen Schulden in den vergangenen Jahren stetig wuchsen und das mit einer ambitionierten Bewertung startet. Sie beteiligen sich an einer Konstruktion, die Näder und seine Töchter Julia (35) und Georgia (28) auch künftig weitgehend selbst kontrollieren. Und sie müssen damit rechnen, dass der Kurs in den kommenden Jahren latent unter Druck steht, weil die Eignerfamilie immer wieder größere Pakete losschlagen dürfte, um Geld zurückzuzahlen, das sie sich für den Wiedererwerb der EQT-Anteile gepumpt hat.
Ein Patriarch als Investitionshemmnis
Näder legte sich im Vorfeld schwer ins Zeug. Mitte August etwa traf sich er sich in Begleitung seiner Tochter Julia mit dem Abgesandten eines in der Schweiz lebenden deutschen Milliardärs zum Abendessen in einem Züricher Edelrestaurant. Die großen Family-Offices des europäischen Geldadels standen ganz oben auf der Liste, genauso wie Vertreter von Fondsriesen wie BlackRock oder Norges Investment Management. Seine Banker hätten ihn nachdrücklich zu der Tour ermuntert, sagen Vertraute.
Mandatiert sind als Joint Global Bookrunners und Coordinators BNP Paribas, Deutsche Bank und Goldman Sachs, sieben weitere Geldhäuser sollen den IPO stützen.
Ein Teil der Angesprochenen fand Näders Unternehmen spannend, sieht aber den Eigentümer und seine bisherige Unternehmensführung eher als Investitionshemmnis.
Seit 2016 sind sechs Finanzchefs erschienen und wieder verschwunden. Näder pflegt einen ausschweifenden Lebensstil samt Jachten und Privatfliegern. Es gilt als unfein, dass er sich für Privatkredite in der Vergangenheit Garantieerklärungen des Unternehmens geben ließ, wie in den im Bundesanzeiger veröffentlichten Geschäftsberichten der Näder-Holding nachzulesen ist.
Zum Unternehmen gehört zudem ein undurchsichtiges Geflecht an Beteiligungen, die teilweise in reger Geschäftsbeziehung mit dem Börsenkandidaten stehen. So zahlte die Ottobock SE & Co KGaA im Jahr 2024 laut Emissionsprospekt 21,6 Millionen Euro an den IT-Dienstleister Sycor und 3, 7 Millionen Euro an die Bötzow Brauerei für die Anmietung des in Berlin ansässigen Ottobock-Future-Labs. Beide Unternehmen werden von der Familie Näder gehalten.
Sein mitunter offenbar nonchalanter Umgang mit Regeln brachte ihm zuletzt ein Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Braunschweig wegen Umsatzsteuervergehen ein, wie er im Börsenprospekt einräumen muss. Die Ermittler bestätigten das Verfahren gegenüber dem Finanzportal “The Market”, das darüber zuerst berichtet hatte. Näder selbst hält die Vorwürfe für gegenstandslos, betont, dass er sich korrekt verhalten habe.
Die gewählte Rechtsform der SE & Co KGaA billigt den neuen Anteilseignern zudem kaum Mitspracherechte zu. In dieser Konstruktion stellt die Komplementärin die Geschäftsleitung - im Fall des Prothesenherstellers die von der Familie Näder beherrschte Ottobock SE, die wiederum von ihrem Verwaltungsrat kontrolliert wird, der von der Familie bestellt wird. Mit anderen Worten: Über die Konzernspitze bestimmen allein die Alteigentümer. Der von den Minderheitsaktionären gewählte Aufsichtsrat hat keinerlei Möglichkeit, die Spitze der Ottobock SE & CO KGaA auszutauschen. Das Unternehmen verweist darauf, dass es sich um eine übliche Rechtsform handelt, die in ähnlicher Form auch von den Familien verwendet wird, die Merck und Henkel kontrollieren.
Preiskorrektur vor dem Handelsstart
Nicht zuletzt rief Näder mit seinen Preisvorstellungen bei einigen seiner Gesprächspartner mehr Skepsis als Begeisterung hervor. In den Wochen vor der Festsetzung der Bookbuilding-Spanne wurden Summen zwischen 5 und 6 Milliarden Euro ventiliert, wenn es um den Gesamtwert des Unternehmens ging. Ende September einigte sich Näder mit seinen Banken schließlich auf einen Rahmen zwischen 4 und 4,2 Milliarden Euro für das Eigenkapital.
Erst einen Tag bevor die vorläufigen!PO-Konditionen über die Nachrichtenticker gingen, sicherte der Logistikmilliardär KlausMichael Kühne (88) zu, sich mit 125 Millionen Euro über seine persönliche Holdinggesellschaft als Ankeraktionär zu engagieren. Desgleichen die US-Fondsadresse Capital Group mit 115 Millionen Euro.
Zu diesem Zeitpunkt dürfte bereits festgestanden haben, dass der Ottobock-Patriarch die ursprünglich im Raum stehende Preisvorstellung um bis zu einem Drittel herunterschrauben würde. Bei heiß begehrten Börsengängen stehen sogenannte Corner-Stone-Investoren üblicherweise deutlich früher parat und geben ihre Zeichnungsversprechen ab, ohne eine genaue Vorstellung zu haben, was die neuen Aktien am Ende kosten.
Wie ernst Näder die anfangs nach außen getragenen Wertvorstellungen nahm, zeigt ein Blick auf die im Börsenzulassungsprospekt offengelegten Bonusvereinbarungen mit Teilen des Ottobock-Vorstands. Die volle Belohnung hätten CEO Oliver Jakobi (57) und CFO Ame Kreitz (46) bei einer Equity-Bewertung von mehr als 6 Milliarden Euro bekommen. Fixer und variabler Anteil zusammengerechnet hätten sie jeder maximal 1,25 Millionen Euro kassieren können. Bei der jetzt festgesetzten Preisspanne fällt der variable Teil aus, der Bonus beschränkt sich auf das Fixum von 500.000 Euro.
Die jetzt im Börsenprospekt festgezogene Preisspanne ist immer noch reichlich sportlich, gemessen an dem Buchwert, den der Finanzinvestor EQT Ende März 2024 in der Bilanz seines EQT VII-Fonds angesetzt hatte. Zu dem Zeitpunkt also, an dem Näder seine Anteile zurückkaufte. Damals belief sich der auf das gesamte Unternehmen hochgerechnete sogenannte Equity-Value auf rund 2,9 Milliarden Euro, lag also zwischen 1,1 und 1,3 Milliarden Euro unterhalb der maximal 4,2 Milliarden, die Näder und seine Banker nunmehr als Hausnummer für den IPO veranschlagen.
Bewertungsakrobatik am Hochreck
Erst recht sportlich ist die Bewertung gemessen an den NettoGewinnen, die Ottobock Ende 2024 erwirtschaftete. 27,9 Millionen Euro standen zu diesem Zeitpunkt laut Emissionsprospekt als Periodenergebnis in der Gewinn-undVerlust-Rechnung - und damit exakt 47,4 Millionen Euro weniger als Ende 2022. Da betrug der Gewinn noch 75,3 Millionen. Selbst an der unteren Grenze der Bookbuilding-Spanne übersetzt sich ein derart mageres Ergebnis in ein Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) von weit über 100. In solchen Regionen bewegen sich ansonsten nur absolute Highflyer made in Silicon Valley.
Normale Bewertungsrelationen ergeben sich erst, wenn statt des Konzernergebnisses selbst konstruierte Kennzahlen wie das Underlying Core Ebitda, also das um Sondereffekte bereinigte und auf das Kerngeschäft reduzierte Ergebnis vor Steuern, Zinsen und Abschreibungen von rund 321 Millionen Euro in die Rechnung einfließen. Mit dem solchermaßen korrigierten Ebitda-Wert von Ende 2024 liegt das KGV bei einem Niveau von ungefähr 13, was auf den ersten Blick tatsächlich günstig erscheint.
Näders Underlying Core Ebitda erscheint als das Ergebnis bilanzieller Schönheitskorrekturen. Diesen Verdacht legt jedenfalls die Analyse des Emissionsprospekts nahe, die ein kritischer institutioneller Investor in Auftrag gegeben hat und die dem manager magazin vorliegt. Dessen Anwälte und Wirtschaftsprüfer zeigen, in welchem Umfang die OttobockBilanzexperten Bewertungsspielräume nutzen und ganze Unternehmensbereiche aus dem Zahlenwerk herauslösen.
Schönheitsoperation |
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Die Entwicklung von unbereinigtem Periodenergebnis von Ottobock und bereinigtem operativen Ergebnis des Kerngeschäfts (Underlying Core Ebitda), in Millionen Euro |
U nbereinigtes Konzernergebnis |
Underlying Core Ebitda |
273,7 |
237,5 |
75,3 |
320,6 |
2022 |
2023 |
2024 |
Quelle: Börsenzulassungsprospekt |
Grafik: manager magazin |
Die Analyse zeigt, dass die Differenz zwischen dem nackten, unbereinigten Konzernergebnis und dem von Ottobock definierten Underlying Core Ebitda seit Ende 2022 stetig steigt: von 162 Millionen Ende 2022 auf 293 Millionen Ende 2024. Das Ausmaß der Korrekturarbeiten wird also mit jedem Jahr umfangreicher.
Im Wesentlichen erklärt sich die klaffende Lücke durch zwei bilanzielle Eingriffe. Erstens werden die Entwicklungskosten in der Ottobock-Bilanz als selbst erstellte Vermögenswerte aktiviert und nicht als Kosten verbucht. Zweitens rechnen die Buchhalter unter anderem die margenschwache Rollstuhlsparte aus dem Ergebnis heraus und erfassen sie in der Rubrik der nicht fortzuführenden Geschäftsaktivitäten.
Beides lässt das Underlying Core Ebitda ordentlich anschwellen und damit die Bewertung deutlich attraktiver erscheinen.
Die Eigenkapitalquote sinkt dazu stetig. Den im Bundesanzeiger veröffentlichten Zahlen der Näder Holding GmbH zufolge, die sich hauptsächlich aus den Aktivitäten der Ottobock SE & Co KGaA zusammensetzt, sank die Eigenkapitalquote des Börsenkandidaten seit 2018 von über 30 auf etwas mehr als 11 Prozent. Gleichzeitig zog die Familie in den fünf Jahren vor 2023 etwa 170 Millionen Euro aus dem Unternehmen ab. Bis zum Börsenprospekt veröffentlichte die Ottobock SE & CO KGaA lediglich Einzelabschlüsse. Was der Konzern insgesamt umsetzte und verdiente, konnte allein über den Abschluss der NäderHolding nachvollzogen werden.
Auf Pump gebaut |
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Die Entwicklung der Eigenkapitalquote der Ottobock SE & Co KGaA1, in Prozent |
26 |
2019 |
2020 |
2021 |
2022 |
2023 |
1 1 Diese gehört zur Näder Holding und macht den überwiegenden Teil des Geschäftes aus. |
Quelle: Bundesanzeiger |
Grafik: manager magazin |
Der Investor, der sich in den vergangenen Jahren mit Tickets jenseits der 10-Millionen-Euro-Marke an zahlreichen Börsengängen beteiligt hatte, wird beim Ottobock-IPO definitiv passen. Allerdings scheint es genügend Fondsmanager und Vermögensverwalter zu geben, die Näder und seinem Unternehmen das Kapital ihrer Anleger anvertrauen wollen.
Bankenkreise jedenfalls ließen verlauten, es seien bislang mehr Aktien nachgefragt worden, als für den Börsengang angeboten werden, es laufe daher auf einen!PO-Preis am oberen Rand der Spanne hinaus.
Sie folgen offenkundig Näders Rechenexempeln und den Prognosen der Konsortialbanken. Die Deutsche Bank etwa sieht den Umsatz bis Ende 2027 bei 1,9 Milliarden Euro, das Underlying Core Ebitda in einer Größenordnung von 524 Millionen Euro, der Free Cash Flow soll sich zwischen 2025 und 2027 von 199 auf 314 Millionen Euro erhöhen. Was die Analysten bei ihren Schätzungen wohl implizit voraussetzen, ist, dass der Krieg in der Ukraine, der die Nachfrage nach Prothesen treibt, bis dahin nicht beendet ist. Sie schreiben in ihren Annahmen ganz offensichtlich das Wachstumstempo fort, das Ottobock mit Beginn von Putins Überfallkommando aufgenommen hatte.
Als die von der schwedischen Wallenberg-Familie kontrollierte Private-Equity-Firma EQT damals ihre übrigen Beteiligungsfirmen dazu drängte, ihr Russlandgeschäft möglichst auf null herunterzufahren, drang deren Deutschland-Ableger bei Ottobock ganz offensichtlich nicht durch. Ottobock verkauft weiter nach Russland, wobei Näder und seine Tochter Georgia Wert legen auf die Feststellung, dass sie ausschließlich Zivilisten und nicht militärische Organisationen beliefern.
Private Altlasten könnten sich zum Kursblei entwickeln
Wenn die Aktie am 9. Oktober in den Handel geht, drohen sich die Folgen einer Altlast wie Blei auf die Kursentwicklung zu legen. Und auch hier spielen die persönlichen Finanzen der bisherigen Eigentümerfamilie eine entscheidende Rolle. Als der Clan im Frühjahr vor zwei Jahren den Minderheitsaktionär EQT herauskaufte und dessen 20-Prozent-Paket übernahm, musste er den Aktienrückkauf über ein sogenanntes Payment-in-KindDarlehen (oder kurz PiK-Loan) finanzieren. Die Rückzahlung wird laut Börsenzulassungsprospekt am 31. März 2030 fällig.
Einschließlich Zinsen ist zu diesem Datum rund eine Milliarde Euro fällig. Die hohe Summe erklärt sich durch die Zinszahlungen, die sich in der Größenordnung jenseits der 10-Prozent-Marke pro Jahr bewegen sollen. Die Erlöse des Börsengangs würden, auch dies ist im Börsenprospekt nachzulesen, für die Rückzahlung des PiK-Loan nicht genügen.
In den kommenden Jahren könnte sich die Eigentümerfamilie also gezwungen sehen, weitere Anteile zu verkaufen, wenn sie am Ende die Gläubiger befriedigen will. Mit anderen Worten: Nach dem Börsenstart dürfte ein latenter Verkaufsdruck auf den Ottobock-Papieren lasten. Der erst dann verschwinden dürfte, wenn Näder und seine Töchter ihre Schulden beglichen haben.
Auch dafür haben sie im Börsenzulassungsprospekt Vorkehrungen getroffen. Die Haltefrist für die Alteigentümer beträgt ungewöhnlich kurze 180 Tage, und sie ist darüber hinaus auffällig großzügig formuliert. Demnach können der Patriarch und sein Anhang auch innerhalb der ersten sechs Monate Aktien abstoßen - sofern die Konsortialbanken einverstanden sind.
Eines muss man dem Prothesenkönig aus Duderstadt lassen. Er setzt alles daran, seinen dritten Anlauf an die Börse gut aussehen zu lassen.